Der Himmel über Afghanistan hat zu viele Sterne

Ali Soltani hat sich mit fünfzehn Jahren aus Afghanistan allein in die Schweiz aufgemacht. Weil er für sich in seinem Geburtsland keine Zukunft sah.

Herat liegt im Südwesten Afghanistans. Das Stadtzentrum befindet sich auf 900 m, Aussenquartiere bis über 2’000 Meter über Meer. Herat ist mit rund 600’000 Einwohnern die drittgrösste Stadt im Land der Taliban. Während den Wintermonaten steigt das Thermometer kaum über Null, im Sommer sinkt es nachts selten unter zwanzig Grad Celsius. Regen fällt in der heissen Jahreszeit keiner. Auf den staubigen Strassen der Aussenquartiere spielen die Knaben Fussball. Die Mädchen dürfen sich höchstens in den von hohen Mauern umgebenen Innenhöfen einen Ball zuwerfen. Täglich fahren die Taliban auf ihren Pick-ups hockend mehrmals Streife, um zu kontrollieren ob die religiösen Gesetze eingehalten werden. Der fünfzehnjährige Ali Soltani schiesst an einem Sommerabend 2021 gerade ein letztes Tor für seine Mannschaft. Er jubelt kurz und macht sich auf den Heimweg. Seine Mutter hat Qabuli Pulau, ein süsslich-herzhaftes Reisgericht mit Karotten, Rosinen und Lammfleisch gekocht. Er muss sich stärken, liegt doch eine sehr lange Reise vor ihm. Dunkelheit bricht ein, das Licht von Milliarden von Sternen breitet sich über den Nachthimmel von Herat aus. Es sind zu viele für Ali. Sie sind keine Orientierungshilfe für den Teenager.

Afghanistan

Viele Nächte lag er unter der erdrückenden Anzahl Sterne wach, wog die Vor- und Nachteile, die Chancen und Risiken seines Planes ab, der auch in den Tod führen könnte. Oft kamen ihm Tränen, dachte er an den Schmerz, den er seinen Eltern und seinen Geschwistern, den er sich auch selbst antun würde, da er wohl ein Leben lang auf Qabuli Pulau aus Mutters Küche verzichten muss. Doch was war das für ein Leben, das hier in Herat auf ihn wartete? Würde er auf eine Handkarre geladene Zwiebeln auf dem Markt verkaufen? Hunderte, tausende Kilos Zwiebeln, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis sein Leben am Staub von Herats Strassen ersticken würde? War das der Plan seiner Eltern für ihn? Ihn, Ali, ihrem ältesten Sohn? «Ich wusste, früher oder später werde ich mit dem System und den Gesetzen der Taliban in Konflikt geraten,» sagte Ali Soltani an einem Mittwochnachmittag im Bibliothekszimmer des Thiersteiner-Schulhauses im Basler Gundeldinger-Quartier. Die Taliban führen ein menschenverachtendes Regime in Afghanistan, das seit dem Sturz des Königs 1973 zum Spielball der Grossmächte sowie einheimischer Stammesführer und Warlords wurde. Nach der zweiten Machtübernahme durch die Taliban 2021 und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan belegt das Land mit grossem Abstand den letzten Platz auf dem jährlich erhobenen Demokratieindex. Die Rechtsgrundlage ist die islamische Gesetzgebung Scharia aus dem siebten Jahrhundert. Frauen haben keine Rechte, schlechten bis gar keinen Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen, Körperstrafen für geringe Vergehen sind genauso an der Tagesordnung wie Todesstrafen. Die humanitäre Lage in Afghanistan gilt als katastrophal. Viele Menschen leben in großer Armut und leiden unter Hunger.

Die Entscheidung

«Es war meine Entscheidung zu gehen, auch wenn meine Eltern strikt dagegen waren,» übersetzt Farzin Farajzadeh die Worte Alis. Farajzadeh stammt aus dem Iran und ist in den frühen 90er Jahren vor den Ayatollah in die Schweiz geflüchtet. Heute arbeitet er als Übersetzer für verschiedene Behörden, Asylzentren und gemeinnützige Vereine. Mit Ali spricht er Persisch (Farsi), die im Südwesten Afghanistans vorherrschende Sprache. «Ich habe meinen Eltern dargelegt, dass es ihnen nichts hilft, wenn ich in Herat bleibe und mir hilft es noch weniger. Ich könnte in Afghanistan nie das werden, was ich aus mir machen könnte. Aber sie liessen sich nicht umstimmen. Von da weg war ich allein mit meinen Überlegungen, wie ich am besten nach Europa komme.»

Mut

Es braucht enorm viel Mut, mit fünfzehn Jahren sich gegen seine Eltern zu stellen und es benötigt nochmals doppelt so viel Mut, sich auf die Reise ins Unbekannte aufzumachen. «Je grösser die Angst wird, desto grösser wird der Mut,» beschreibt Ali den wichtigsten Beweggrund für seine wagemutige Entscheidung. Eine Entscheidung, die das Leben von Ali grundlegend auf den Kopf stellen würde. Eine Entscheidung für die Freiheit. Dabei geht es nicht nur darum, die Fesseln eines diktatorischen Gesellschaftssystems abzustreifen und sein Glück in einem freiheitlich demokratischen Staat zu versuchen, sondern auch darum, sich im Kopf freizumachen, um überhaupt fähig zu sein, eine solch einschneidende Entscheidung mit einer so immensen persönlichen Tragweite überhaupt treffen zu können. Der Augenblick, in dem man eine solche wegweisende Entscheidung trifft, ist einer der wenigen Momente, in welcher der Mensch die persönliche Freiheit überhaupt erleben kann. «Es war eine Entscheidung der Logik, denn ich sah keine Zukunft für mich in Afghanistan,» kommentiert Ali diese Überlegungen.

Der Weg

Am anderen Tag fasste er sich ein Herz und verliess Herat, gelangte an die iranische Grenze und von dort ging es weiter nach Isfahan, der ehemaligen Hauptstadt Persiens. Ein Jahr lang blieb er dort und arbeitete in der Steinverarbeitung. Ali schnitt Tonnen schwere Blöcke des rötlichen Travertins, polierte und transportierte er den für luxuriösen Innenausbau begehrten persischen Marmor. Fernab der Hauptverbindungsstrassen und offiziellen Grenzposten führten ihn Schlepper in Privatautos, auf Motorrädern und Mofas in die Türkei. Während einem halben Jahr schneiderte er in einer grossen Textilfabrik Unterarme und Manschetten, bevor mit Hilfe von Schleppern über Griechenland, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Italien an sein Endziel Schweiz gelangte. Endgültig geschafft hatte er es, als er einem Beamten in einem Büro des Bundesasylzentrums in Basel gegenübersass. Mehr als 6’000 Kilometer, begleitet von Angst, Unsicherheiten und Demütigungen hatte Ali für seinen Traum von einem besseren Leben unter die Füsse genommen.

Champions

Am ersten Tag kam er barfuss zum «Champions – Sport und Lernen»-Nachmittag im Thierstein-Schulhaus. Ali hatte keine Turnschuhe. Empfohlen hatte ihn sein Asyl-Betreuer: «Er könne zwar kein Deutsch, aber er habe eine gewinnende Art und eine rasche Auffassungsgabe. Ein Versuch als Juniorcoach bei einem Championsnachmittag wäre es allemal wert.» Ali fügte sich nahtlos in die Reihe der Junior-Coaches ein, die gegen ein Sackgeld durch den Nachmittag führen, den Primarschüler*innen bei den Hausaufgaben zur Seite stehen, die Turnhalle vorbereiten, die sportlichen Spiele leiten und ein Zvieri bereitstellen. «Es ist meine erste Arbeit in der Schweiz,» sagt Ali stolz. «Für mich ist wichtig, dass ich unter Menschen bin. Die Arbeit mit den Kindern macht mir viel Spass und ich lerne Deutsch dabei.» Ali geht zur Schule. In Deutsch, Mathematik und wie man sich in der Schweiz zurechtfindet, wird er unterrichtet. Daneben hat er viel Zeit, die er nutzen will. Beispielsweise für Taekwondo, eine koreanische Kampfsportart, die Konzentration, Kraft, Schnelligkeit und Gleichgewicht miteinander verbindet. Dabei geht es ihm nicht nur um den Sport selbst, sondern hauptsächlich darum, Menschen zu treffen, Anschluss an diese Gesellschaft zu finden, die so grundlegend anders ist als die afghanische. Alles ist gesetzlich geregelt, Willkür auf ein Minimum reduziert, der Staat dient den Menschen, darüber kann man mitbestimmen, Religion ist kein Zwang, sondern Privatsache, Frauen und Männer gleichgestellt – Schweizer Demokratie. Die Bildungssysteme stehen allen offen, an der Chancengleichheit arbeiten viele Behördenstellen, NGOs oder Vereine wie Champions – Lernen und Sport und zig Bildungs- und Freizeitangebote fördern die Migration. Ali hat schnell verstanden welche Chancen sich ihm hier eröffnen. Er hat eine rasche Auffassungsgabe und entsprechend haben sich auch schon seine Deutschkenntnisse entwickelt. Er weiss ganz genau, dass die Sprache der Schlüssel für seinen Weg in der Schweiz sein wird. Wie dieser Weg aussieht, weiss er noch nicht genau. Er hat und gibt sich Zeit, bis die Dinge so zusammenkommen, das sie für ihn passen. So, dass aus Ali hier das aus sich machen wird, damit er Ali wird. Die Sterne werden ihm den Pfad weisen. Was sich für ihn gut anfühlt, gibt es doch am Basler Nachthimmel bedeutend weniger als über Afghanistan.